Karussellpferdchen

Damit hatte jetzt niemand gerechnet. Selbst die Initiatoren der Kampagne gegen die Karussellpferde hatten nicht wirklich gehofft, dass ihr Vorstoß dann doch noch in einem Gesetzgebungsverfahren enden könnte. Aber die sozialen Medien hatten merkwürdig zurückhaltend reagiert. Selbst die Presse kommentierte eher gnädig bis wohlwollend die Forderung, man solle Karussellpferde von den Jahrmärkten verbannen, weil Kirmesreittiere aller Art den Kindern das falsche Bild vom dienenden Tier vermitteln. 

Anfangs dachte man noch bei den Tierschützern, der Zeitpunkt für den öffentlichen Vorstoß könnte der Grund für das Ausbleiben von Shitstorms gewesen sein. Am Veilchendienstag hatte sich die Mehrheit der Bevölkerung zur allgemeinen Ausnüchterung zurückgezogen. Die Sitzungen der Karnevalsvereine und die Büttenreden der vergangenen Tage hatten mehrheitlich die  Lachmuskulatur trotz vieler bekannter Pointen in Katerstimmung gebracht. Im Vorstand der NGO hatte man sich mit Bedacht für diesen Tag entschieden.  Ausschlaggebend war die Überlegung, dass man bei zu starkem öffentlichen Gegenwind sich ja immer noch auf die Position zurückziehen könnte, man habe einen Beitrag zur Brauchtumspflege leisten wollen. Den 1. April hatte man schon als Ausweichtermin eingeplant.  

Doch es kam anders: Eine Vielzahl von Online-Petitionen machte sich die Argumente der Tierschützer zu eigen und zwang die Politik zum Handeln. Bei den Parlamentariern in Berlin wurde eine interfraktionelle Arbeitsgruppe ins Leben gerufen, die sich der Frage annahm. Grundkonsens war: Tiere zu reinen Unterhaltungszwecken zu nutzen, sei es auch als Holz- oder Kunststoffnachbildungen auf Kinderkarussellen, sei unvereinbar mit dem Staatsziel Tierschutz. Der Argumentation, wonach schon Kinder lernen sollten, dass es nicht in Ordnung ist, Pferde im Besonderen, aber auch andere Tiere, den ganzen Tag über im Kreis laufen zu lassen, folgte auch gleich ein prominente Spitzenpolitiker. Wer an Wochenenden die Mistgabel in die Hand nehmen müsse, um den Stall für das Reitpferd der Gattin auszumisten, könne verstehen, worum es geht. Kurzum: Die Forderung,  in der Öffentlichkeit ein realistisches, lebensnahes Bild vom Einsatz des Pferdes im 21. Jahrhundert zu fördern, nahm Gestalt an. Selbst die von Bauernstreiks  und Lokführerausständen gebeutelte Bundesregierung unterstützte die Initiative.


Wie erwartet, drohte der Schaustellerverband nach dem Prinzip „Wehret den Anfängen” mit juristischen Mitteln. Notfalls auch mit einer Sternfahrt von Kirmeswohnwagen und Schwertransportern nach Berlin zum Deutschen Bundestag inklusive einer Blockade der deutschen Autobahnen. Doch solche Drohungen verstummten, nachdem sich die heimliche Hoffnung  auf eine Unterstützung der Bauern in Luft aufgelöst hatte. Denen war die Sache zu heikel. Gerade erst habe man flächendeckend die Stallhaltung der Milchkühe eingeführt. Da sind in aller Regel  auch Melkkarusselle im Einsatz. Man wolle in der Öffentlichkeit nicht schlafende Hunde wecken. Das immer noch existierende Bild vom Rindvieh auf der Weide und von der handgemolkenen Kuh wolle man aber unter keinen Umständen in Gefahr bringen. Das untergrabe teure Marketingkampagnen. Eine Beteiligung an einem Streik der Schausteller könnte  militante Tierschützer aus der Reserve locken, befürchtete man.

Immerhin konnten die Schausteller insofern einen Achtungserfolg erreichen, dass man seitens der Politik in Aussicht stellte, die teure Umrüstung der Kinderkarusselle auf alternative Reitgelegenheiten für Kleinkinder über staatliche Förderbanken zu subventionieren. Natürlich seien vorrangig alle Möglichkeiten zu prüfen, wie man kostenneutral im Wege der Selbsthilfe die Karusselle umrüsten könne. Die Fragen des Verbandes, wie man sich denn konkret eine solche “Umrüstung” vorstelle, führten zu einer Expertenanhörung durch den Arbeitskreis Karussellpferdchen. Fachleute aus Wissenschaft und Praxis, Sachverständige der Fachministerien und Interessenvertreter tangierter gesellschaftlicher Gruppen wurden eingeladen und unterbreiteten zahlreiche Vorschläge. 


Wichtige konkrete Transformationsvorschläge für die Fahrgeschäfte kamen von der Automobilindustrie. Man sei bereit, die Karussellpferde und anderes Getier, das der Forderung nach realitätsnaher Darstellung nicht gerecht werden könne, komplett gegen Karussellautos auszutauschen. Die zeitgemäße Kraftwagenkolonne sollte möglichst von zwei sich überholenden Karussell-LKWs angeführt werden. Da Karussells in der Regel zweispurig sind, sollte die schnellere Innenspur mit Karussell-SUV’s, Sportwagen und  und Luxuslimousinen bestückt werden. In der Außenspur könne man sich gut Klein- und Mittelklassewagen vorstellen. Man habe bereits Vorgespräche mit namhaften Automobilherstellern geführt. Solche Umrüstungen werde man  großzügig  aus den hauseigenen Werbeetats unterstützen. Voraussetzung für die Übernahme von Investitionskosten sei allerdings, dass die Markenlogos im Sinne einer frühkindlichen Prägung auf den Karussellautos deutlich erkennbar angebracht werden.

Im Grundsatz wurde dieser Vorschlag von den Vertretern aus dem Wirtschafts- und dem Verkehrsministerium unterstützt. Der Vertreter der Konferenz der Kultusminister der Länder regte an, zukünftige Kinderkarussells mit einer dritten Spur verpflichtend auszustatten. Im Sinne einer frühen Verkehrserziehung dürfen dort ausschließlich die Fahrzeuge der Rettungs- und Einsatzkräfte montiert werden.

Widerspruch kam wie erwartet aus den Reihen der Umweltorganisationen. Die Zukunft des Verkehrs gehöre den Schienenfahrzeugen und den Lastenrädern. Dem Vorschlag einer dritten Fahrspur für Rettungsfahrzeuge wolle man sich nicht verschließen. Aber nur dann nicht, wenn eine zusätzliche Fußgängerspur  vorgesehen wird, auf der besorgte Eltern neben ihren Kindern auf den angebotenen Fahrmöglichkeiten mitlaufen können, anstatt wie bisher nur hilflos vom Karussellrand zuwinken zu können. Der Zustimmung des Bundeselternbeirats sei man sich für diese Maßnahme sicher. Ein andernfalls zu befürchtender Boykott der Fahrgeschäfte durch Elternverbände habe verheerende Folgen, gab man zu bedenken.
Anregungen, man möge die Karussellpferdchen gegen Monde, Planeten oder Sterne austauschen, wurden von den Vertretern des Max-Planck Instituts heftig zurückgewiesen. Wenn man realitätsnahe Karussellangebote machen wolle, dann solle man es doch besser beim Holzpferdchen belassen. Die atomare Hitze einer Sonne und die Sauerstoffleere des Mondes seien nur mit hohem technologischem Aufwand zu simulieren. Außerdem wisse man spätestens seit Johannes Kepler, dass sich Planeten auf elliptischen Bahnen bewegen.

Diese letzte Aussage führte zu heftigem Protest durch den Vertreter der deutschen Bischofskonferenz. Bis in die Neuzeit hinein sei man davon ausgegangen, die Erde sei eine Scheibe, gerade so, wie es sich im Bilde des Karussells darstelle. Seit man diesbezüglich vom Weg der Mutter Kirche abgekommen sei, sei die Welt kompliziert geworden. Einfacher sei es nun allemal, nicht das Karussell zum Drehen zu bringen, sondern stattdessen dem Himmel mehr Beachtung zu schenken. Sterne, Mond und Planeten möge man deshalb unter dem Karusselldach installieren und in Bewegung bringen. Wenn es aber nur darum ginge, Aufsitzmöglichkeiten für Kinder zu schaffen, habe man als Kirche über Jahrhunderte beste Erfahrungen mit dem Heiligen Christophorus gemacht. Der sei geradezu prädestiniert als Träger unserer Kinder und gehöre auf jedes Kinderkarussell.

Einen unerwartet konstruktiven Vorschlag machte der Verband der Historiker und Historikerinnen. Nach einem umfassenden Referat über Monumentalstatuen der römischen Kaiser, an denen man nach dem Ableben des jeweiligen Amtsinhabers aus Kostengründen den Torso beließ und nur den Kopf austauschte, könne man analog auch mit den Karussellpferdchen und anderen Kirmesreittieren verfahren. So könne man ja dem Pferdekörper einen Stierkopf verpassen, dem Stierkörper einen Tigerkopf, dem Bärenkörper den Pferdekopf anschrauben und dem Körper des Tigers wiederum den Kopf des Bären aufsetzen. Solche Mischwesen hätte es in der Mythologie der Völker schon immer gegeben. Man denke nur an den Minotaurus, die Zentauren, die Meerjungfrau, die Sphinx oder den Wolpertinger. Fabeltiere seien auch nicht durch das Grundgesetz in ihren Tierrechten geschützt.

Diesem Vorschlag schlossen sich die Vertreter des Pen Clubs und der Lehrergewerkschaften an. Sie waren mit dem Vorsatz angereist, mit allen Mitteln zu verhindern, dass die Tierschützer als nächstes ihr “Aufbruch zur Jagd Signal” blasen würden auf die Darstellung des Tiers in der Literatur im Allgemeinen, in der Fabel im Besonderen. Das laufe auf die Schließung ganzer Bibliotheken hinaus, wenn die von entsprechendem Schrifttum bereinigt werden sollten, gab man zu bedenken. Die Lehrer müssten ihre bewährten Unterrichtsentwürfe zum Reißwolf tragen. Wer das Tier aus überlieferter und aus zukünftiger Literatur verbannen möchte, der läute sehenden Auges das Ende der “Gute-Nacht-Geschichte” ein. Umsatzeinbrüche ungeahnten Ausmaßes bei Verlagen und Buchhandlungen seien die Folge. Selbst die Bibel sei davon massiv betroffen und müsse umgeschrieben werden.” – “Amen!” – riefen die Abgesandten der deutschen Bischofskonferenz und des Kirchentags in ökumenischer Einstimmigkeit. In den Gleichnissen spielen Wolf und Schaf eine wichtige Rolle in der moralischen Erbauung der Gläubigen. Und als schließlich die Vertreter des Deutschen Fußballbundes erkannten, dass  die Tiermaskottchen ihrer Vereine mit dem geplanten Gesetzesvorhaben in Lebensgefahr geraten würden, brachen unter den Teilnehmern der öffentlichen Anhörung tumultartige Szenen aus, die an die Auseinandersetzungen in italienischen Parlamenten erinnerten.

Am Ende einigte man sich auf Vertagung der Angelegenheit auf unbestimmte Zeit.