Brotgeschichten
Als ich ein Kind war, war Brot mehr als nur ein Grundnahrungsmittel. Sein Verzehr bei Tisch war mit einem festen Ritual verknüpft. Das Brot lag in einem Korb zusammen mit einem Brotmesser. Bevor es nach dem Tischgebet angeschnitten wurde, wurde es vor aller Augen gesegnet. Mit dem Messer ritzte mein Vater ein Kreuz auf die Unterseite. Jeder bekam davon soviel wie er wollte, aber Aufessen war Pflicht. Es wurden keine „Urzen“ gemacht, wie man im rheinländischen Dialekt sagt. Brot verderben zu lassen oder wegzuwerfen galt bei mir zu Hause als eine schlimme Sünde. Brot genoss als Nahrungsmittel die höchste Wertschätzung.
Und es gibt noch andere Familiengeschichten zum Brot.
Da ist die Geschichte meines Opas. Er war Schaffner bei der Reichsbahn. Während der Weltwirtschaftskrise hatte er vorübergehend seine Arbeit verloren. Um seine Familie durchzubringen, hat er dann im Staatsforst auf in der Schneifel als Waldarbeiter gearbeitet. Bäume wurden damals mit Zugsägen gefällt, man nannte diese Sägen in der Eifel Drommsäge. An jedem Ende der etwa 1,5o bis 2 Meter langen Säge kniete ein Holzfäller und man zog die Säge abwechselnd zu sich heran. Es erforderte Geschick und viel Kraft und Ausdauer einen dicken Baum auf diese Weise zu Fall zu bringen. Und dann musste der liegende Baum anschließend abgelängt und entastet werden. Motorsägen oder Kettensägen, wie wir sie heute kennen, gab es damals noch nicht. Diese schwere Waldarbeit wurde auch meistens im Winter gemacht, wo die Bäume ihre Säfte in die Wurzeln zurückgezogen hatten. Bei dieser schweren Arbeit bestand das „Mittchen“ meines Großvaters, seine Mittagsration, aus einem Apfel und einer Remmel trockenen Brotes. Unter einer „Remmel“ muss man sich eine dick geschnittene Brotscheibe vorstellen. Mehr wollte er nicht, damit meine Oma und seine drei Kinder genug zu essen hatten.
Die schlimmste Brotgeschichte betrifft meinen Vater. In der Kriegsgefangenschaft wäre er fast verhungert, so knapp waren die täglichen Brotrationen. In den letzten Kriegsjehren wurde er in die HJ-Division eingezogen, als er 17 Jahre alt war. Die war der SS unterstellt. Bei der Invasion in der Normandie wurde er als Panzerfahrer schwer verwundet und verlor sein linkes Bein. Noch nicht genesen, wurde er aus dem Lazarett heraus wegen seiner erzwungenen SS-Zugehörigkeit in ein Gefangenenlager interniert, in dem ehemalige KZ-Häftlinge aus Polen die Wachmannschaften stellten. Mein Vater hat mir erzählt, wie man dort Hilfslieferungen des Roten Kreuzes vor den Augen der hungernden Häftlinge verbrannt hat. Bei einem anderen Racheakt der Wachmannschaften habe man das Brot für die Soldaten mit Arsen vergiftet. Wer seine Tagesration auf einmal verzehrt habe, sei regelrecht krepiert. Viele seiner Kameraden seien, ohnehin geschwächt von den primitiven Latrinen, in die Fäkaliengrube gefallen und dort ertrunken.
Auch ich habe meine eigenen Geschichten vom Brot. Als ich noch sehr klein war, hatte man bei uns zu Hause das Brot selbst gebacken. Es gab in meinem Elternhaus einen eigenen Brotbackofen, in den insgesamt acht Brote passten, die so groß waren wie Schubkarrenräder. Das Ofeninnere war aus Naturschamott gemauert. Mayener Steine nannte man sie, weil man dort denTuffstein für die Backöfen abbaute. Mit Buchenholzscheiten wurde die Backkammer des Ofens aufgeheizt, bis die Steine eine fast weiße Farbe annahmen. Nach dem Mischbrot buk man mit der Resthitze den Rosinenweck. Auch das war ein Hochgenuss, wenn er frisch angeschnitten wurde und mit Butter und Marmelade verzehrt wurde, Die Brotlaibe wurden in großen, glasierten Steintöpfen im Keller kühl gelagert. Dadurch, dass sie wunderbar ausgebacken waren und nur wenig Wasser enthielten konnte man sie gut und gerne drei Wochen aufheben, ohne dass sie schimmelten.
Später dann bestellten wir das Brot von einer Frau im Dorf, die sich so etwas Geld nebenher verdiente. Wir Kinder mussten das frisch gebackene Brot immer holen gehen. Und wir taten es liebend gerne. Das Brot duftete so verführerisch, dass wir der Versuchung nicht wiederstehen konnten. Mit unseren Fingerchen puhlten wir dort, wo die Brote im Ofen aneinander gebacken waren, die frische Brotkrume heraus und brachen kleine Stücke der Kruste ab. An den Geschmack kann ich mich heute noch erinnern. Er war köstlicher als alles andere, was sonst noch auf den Tisch kam.
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Deutschland ist das Land mit der größten Brotvielfalt in der Welt. 3000 verschiedene Arten von Brot kennt man hier. Seit 2014 steht die Deutsche Brotkultur in der Liste der immateriellen Kulturgüter.
Ganz im Widerspruch hierzu steht unser Umgang mit dem täglichen Bot. In Deutschland landen rund ein Drittel der produzierten Lebensmittel auf dem Müll. Darunter auch Brot. 2018 waren es 1,7 Millionen Tonnen.
Ich trage persönlich wissentlich nicht dazu bei. Ich kaufe nur soviel Brot wie ich innerhalb einer halben Woche verbrauchen kann. Ich werfe Brot nicht weg. Ich trockne alt gewordenes Brot, verarbeite es zu Paniermehl oder gebe es manchmal meinem Nachbarn für seine Hühner.