Jesus, die Bienen sind draußen
„Kirst, imbi ist hûcze!“ so beginnt eines der ältesten Dokumente der deutschen Sprache und Literatur. . Über den Verfasser des „Lorscher Bienensegens“ weiß man nichts, außer dass er ein Mönch war, der im Skriptorium eines oberrheinischen Klosters eine Kopie der „Visio Sancti Pauli“ anfertigen sollte. Der „Lockzauber“ ist in einer Abschrift der sogenannten Paulusapokalypse als eine auf dem Kopf stehende Fußnote gefunden worden.
Eine der gängigen Interpretationen der bemerkenswerten Marginalie ist, dass hier der „Mensch die Allmacht Gottes und die den Heiligen von Gott verliehene Macht anerkennt und sie um ihren Einsatz zu seinen Gunsten bittet.“ Das klingt etwas sehr schwammig und allgemein.
Deshalb erlaube ich mir, mit einer Bienenkerze und etwas imkerlicher Phantasie ein wenig Licht in das Dunkel der Geschichte zu tragen.
Ich sehe einen Mönch an seinem Schreibpult und seinen Auftrag. Er soll einen etwas abstrusen theologischen Text über die Höllenvisionen des heiligen Paulus abkupfern, während draußen gerade die ihm anvertrauten Bienen zu schwärmen beginnen.
Dem Mönch, im Nebenberuf der Apiarius, der die Klostergemeinschaft mit dem kostbaren Honig und dem noch kostbareren Bienenwachs versorgt, ist es nicht erlaubt zu fluchen, sonst hätte er vielleicht nicht „Krist“, sondern so etwas wie „Verdammt“ oder „Zum Teufel“ geschrieben. „Christus, die Bienen schwärmen!“ so schimpft ein frommer Mönch in einer absoluten Notlage.
Während er hier im Scriptorium einer Arbeit nachgehen muss, die aufgeschoben werden könnte, passiert an seinem Bienenstand etwas, das für die Klostergemeinschaft sehr segensreich sein könnte. Beim Schwärmen teilt sich ein bestehendes Bienenvolk, und zwei Bienenvölker sind produktiver als eins. Aber die Bedingung hierfür ist, dass man den Schwarm rechtzeitig birgt. Wahrscheinlich ist es unserem Mönch nicht erlaubt, seine Arbeit zu unterbrechen. Er sieht, dass die Bienen dabei sind, eine neue Wohnung für den Schwarm zu suchen. Wenn sie die im nahen Wald finden, bevor sie eingefangen sind, dann wäre das ein großer Verlust.
Er beschwört die Tiere, nur ja gesund heim zu kommen: „Nû fliuc dû, vihu mînaz, | heraFridu frôno | in munt godesgisunt | heim zi comonne.“ ( Nun fliegt, ihr meine Bienen, kommt. Im Frieden des Herren, unter dem Schutz Gottes, kommt gesund zurück.)
Der Klosterimker ist an sein Gelübde gebunden und seinem Abt absoluten Gehorsam schuldig, und mithin auch seinem Dienstplan. Ich stelle mir vor, dass sein Vorgesetzter wie üblich aus einer adligen Familie stammt. Zu den praktischen Dingen des Lebens hat er im Gegensatz zu dem untergeordneten Klosterbruder keinen Bezug.
Möglicherweise hat der Mönch ihn gebeten, heute ausnahmsweise bei den Bienen Schwarmwache halten zu dürfen, weil Schwarmzeit und vor allem Schwarmwetter ist. Da muss man auf Zack sein und abgehende Schwärme sofort einfangen. Wenn man den Bienen direkt einen neuen Bienenkorb als Wohnung gibt, dann fliegen sie nicht hinaus in die Natur, um sich unwiederbringlich einen hohlen Baum oder eine Felsspalte für ihre neue Kolonie zu suchen. „Hurolob ni habe dû | Zi holce ni flûc dû “ (Ihr habt keinen Urlaub, fliegt nicht in den Wald!)
Doch der Klostervorsteher hält nicht viel von Pragmatismus. Wozu hat man denn auch strenge Ordensregeln? Ora et labora! Und labora heißt nicht, „untätig“ um die Bienenstöcke herumzulungern, sondern endlich die Abschrift der Visionen des Apostels Paulus fertigzustellen. Statt einer Erlaubnis musste sich unser Klosterimker wahrscheinlich noch irgendeine gelehrte Bienenallegorie anhören: „Kirchenvater Origines hat uns gepredigt, dass Gott uns Menschen die Bienen zum Exempel geschaffen hat . Am Fleiß und Gehorsam der Insekten sollen wir Menschen die Bedeutung von Ordnung und (Ordens)regeln studieren! Basta!“
Wo gehorsame Demut so in Konflikt gerät mit der praktischen Vernunft, da darf man zu unkonventionellen, heidnischen Methoden greifen. Schließlich geht es ja darum, dass man sich seinen Haferbrei auch mal mit Honig versüßen möchte. Und auch das Honigbier, das man im Kloster braut, wärmt den Magen und erzeugt mitunter selige Stimmungen. Und es geht auch um die balsamisch duftenden Kerzen. Sie werden aus dem Wachs der jungfräulichen Bienen gemacht und der heiligen Jungfrau Maria als Zeichen ihrer unbefleckten Empfängnis geweiht.
Wo man selbst nicht handeln darf, da kann nur noch ein magischer Zauber helfen. „Es ist ja noch nicht so lange her, dass der heilige Bonifatius den germanischen Stämmen das Christentum gebracht hat. Der neue, dreifaltige Gott ist stärker als die germanischen Götter, von denen wir uns abgewendet haben.“, so der vermutete Gedankengang des verzweifelten Klosterimkers. „Jesus und Maria werden mir helfen, die Bienen so lange zu bannen, bis ich Feierabend habe! Bei der Anrufung von Wotan und Freya soll der Bienenzauber ja auch schon gewirkt haben. Ich muss nur die richtigen Zauberwörter finden. So wie ich meinem Abt Gehorsam schuldig bin, so müsst auch ihr Bienen den Befehlen der Gottesmutter gehorchen! Sizi, sizi, bîna | Inbôt dir sancte Maria!“ (Sitzt, sitz ihr Bienen, das befiehlt euch die heilige Maria!)
Und der Mönch schreibt: „Sizi, sizi, bîna | Inbôt dir sancte Maria | Hurolob ni habe dû | Zi holce ni flûc dû | Noh dû mir nindrinnês | Noh dû mir nintuuinnêst | Sizi vilu stillo | Uuirki godes uuillon “ ( Sitzt, sitzt, Bienen. | Der Befehl kommt von der Jungfrau Maria. | Ihr habt keinen Urlaub. | Fliegt nicht in den Wald. | Weder sollt ihr von mir entgleiten. | Oder vor mir flüchten.| Sitzt im absolut Stillen | und erfüllt Gottes Willen).
Ob die Bienen tatsächlich sitzen geblieben sind, bis der Mönch in seiner klösterlichen Schreibstube Dienstschluss hatte, können heute nur noch Gandalf, Merlin oder Harry Potter beantworten.
Interessante Links:
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