„Sie werden gleich verbunden“
Ich mag keine Anrufbeantworter! Bei dem Satz „Sprechen Sie bitte Ihre Nachricht nach dem Tonzeichen!“ bekomme ich heute noch feuchte Hände. Da ist es mir lieber, wenn ich nach dem 10ten Rufzeichen denke, am anderen Ende ist niemand. Ich lege dann auf und versuche es später noch einmal. Beim Anrufbeantworter gibt es keine Aufwärmphase, keinen Small Talk, der dem Vortragen meines Anliegens vorausgeht, keine Rückmeldung über die Stimmung meines Gegenübers, auf die ich mich gerne einstellen würde. Meistens lege ich auf, wenn ich das Tonzeichen für meine Sprachnachricht höre und versuche später noch einmal mein Glück.
Der Neue Alptraum ist die automatisierte Telefonvermittlung. Von der Möglichkeit etwas auf Band zu stottern bin ich jetzt befreit. Aber stattdessen warne ich alle vor der darin lauernde Warteschleife. Hinterlistig und heimtückisch ist sie. Wie eine Sclange nimmt sie mich in ihren Würgegriff genommen. Meine Geduld wringt sie aus wie einen feuchten Spüllappen. Einmal in ihre Windungen geraten, bin ich ihr hilflos ausgeliefert. Mit meiner Hoffnung spielt sie Flipper. Ich kann ihr nicht entkommen. Sie spielt mit meiner Hoffnung auf baldige Verbindung wie die Katze mit der Maus.
Ganz harmlos und vielversprechend setzt sie ihre Schlingen an. Nur drei Rufzeichen ertönen und eine freundlich klingende Sirenenstimme meldet sich mit dem Firmen- oder Behördennamen und lockt mich mit ihrem „Schön, dass Sie uns anrufen“ . Man ahnt noch nicht, auf was man sich einlässt, wenn sie dazu auffordert eine einstellige Nummer auf der Tastatur desTelefons einzugeben. Sogar einsprechen kann ich mein Verhängnis. Noch überlege ich, zu welcher Zahl auf dem Nummernblock meines Telefons mein Anliegen passt, da ergreift die Meduse die Initiative. Sanft und bestimmend zischelt sie: „Es tut uns leid, wir haben Sie leider nicht verstanden.“ und wiederholt den Firmennamen, das Firmenmotto, die Zahlen und ihre zugeordneten Problemlagen. „Wenn Sie Fragen zu einer Zusendung haben, dann wählen Sie sie Eins, wenn Sie einen Mitarbeiter sprechen wollen, dann wählen Sie die Zwei, Wenn Sie …, wählen Sie, wenn Sie …, wählen Sie, wenn … !!! Man verfällt auf den tügerischen Gedanken: „Was soll’s? Wenigstens musst du dich nicht wie früher lange durchfragen, bis du an die zuständige Abteilung vermittelt wirst. Dann brauchst du dein Sprüchelchen nur einmal aufzusagen!“ Ich drücke gedankenschnell die Ziffer „Fünf für Sonstiges“. Man will schließlich nicht noch einmal durch die Drehtür der Warteschlange hindurchgequetscht werden.
Man ahnt nicht, dass der nächste Tastendruck erst den zweiten Akt in diesem modernen Telefondrama einleitet. Statt eines für „Fünf für Sonstiges“ ausgebildeten und auch zuständigen Sachbearbeiters erklingt Mozarts Kleine Nachtmusik, eingespielt von einem Klavierschüler, der wieder und wieder seine Notenfolgen übt, bis sie sitzt. Alle 40 Sekunden hört man dann eine kurze Pause und… das Geklimpere geht von vorne los. Nach dem zehnten Durchlauf dann die kurze Botschaft: „Es tut uns leid, leider befinden sich alle unsere Mitarbeiter im Gespräch. Bitte haben Sie noch etwas Geduld. Wir verbinden Sie mit dem nächsten freien Mitarbeiter.“
Auch Akt drei beginnt mit der „Nachtmusik“. Das hier ist nich nur der Proberaum einer Musikschule. Die Erkenntnis stellt sich ein: Endloswiederholungen klassischer Meisterstücke könnten ohne weiteres zur Erpressung von Geständnissen genutzt werden. Dann ein trockenes Knacken und wieder tritt eine vielversprechende Stille ein. Raum für zaghafte Hoffnung auf Erlösung, Warten auf Verbindung und die bange Befürchtung „Ist die Leitung jetzt tot?“ Man ruft wie ein verlassene Entführungsopfer: „Hallo, hallo, ist da jemand?“ – Und aus dem Off antwortet die eigene Frau mit dem Satz: „Was ist los, ich bin in der Küche.“
In puncto Frustrationstoleranz stehe ich im Normalfall auf einer Skala zwischen eins und zehn bei fünf. Doch der Zwischenruf meiner Frau katapultiert mich auf Stufe Neun. Hätte man vielleicht nicht besser die Orchesterfassung der „Nachtmusik“ durchlaufen lassen können? Die dauert ja nur ca. 16 Minuten. Mich überfällt nostalgischer Sehnsucht nach der „guten alten Zeit“ des Faxgerätes und des Anrufbeantworters und Reue über meine Undankbarkeit: Nach dem „Hinterlassen Sie Ihre Nummer. Wir rufen Sie zurück!“ konnte man auflegen in der Gewissheit, da war niemand, der meinen Anruf entgegennehmen konnte. Ich konnte mir eine Tasse Kaffee holen, noch eine andere Kleinigkeit erledigen, Akten sortieren oder einfach nur die Arme hinter dem Kopf verschränken, die Füße auf den Schreibtisch legen und ein tibetische „Ommmm“ intonieren. Damals gab es noch Hoffnung auf baldigen Rückruf, eine Entschuldigung für die Wartezeit und eine großzügige Absolution: „Kein Problem, ich weiß dass auch Sie viel um die Ohren haben.“ Darauf folgte dann die Erledigung meines Anliegens, obwohl ich irgend etwas Verworrenes aufs Band gestammelt hatte.
Und jetzt? Ich lege auf. Als Telefonierender braucht man nach zwanzig Minuten Automatic-Call-Distribution-Terror eine Verschnaufpause so nötig wie ein Schauspielbesucher seine Theaterpause. Statt Sekt und trockener Brezel greife ich zu einer Tasse Kaffee und einem Stück Schokolade. Das soll ja bei hoher nervlicher Belastung helfen, damit man seine „innere Mitte“ und seine Gelassenheit wieder herstellen kann.
Gestärkt und hoffnungsfroh drücke ich danach die Wahlwiederholung. Vielleicht klappt es ja jetzt auf Anhieb und der nächste Mitarbeiter ist frei und hat nicht frei. Aber mein Optimismus ist offensichtlich fehl am Platze. Geduldig und gewappnet mit dem Vorsatz „Ich bin jetzt ganz ruhig“ kämpfe ich mich noch einmal durch die Akte eins bis drei, überspringe die Konzertpause, und stelle mich tapfer dem vierten Akt, ohne zu ahnen, dass in diesen Automatic-Call-Distribution-Warteschlangen-Zeiten noch ein fünfter Akt mit einer Katastrophe folgen könnte.
Nach weiteren Wiederholungen des klassischen Ohrwurms wechselt die digitale Sprechstimme endlich ihren Text: “ Wir sind gleich für Sie da! Der nächste freie Mitarbeiter wird sich um Ihr Anliegen kümmern“ Nach spätestens drei Durchläufen, so kalkulierte ich erwartungsvoll, würde endlich das erlösende „Hier Soundso, was kann ich für sie tun?“ erklingen. Doch noch ist das grausame Spiel der Warteschlange nicht vorbei. Wieder meldet sich die freundliche Stimme zu Wort und beginnt, auf die zahlreichen Dienstleistungsangebote des Unternehmens hinzuweisen, darunter die FAQs auf der Homepage, einen umfangreichen Formulardownloadbereich, die öffnungs und Besuchszeiten, die Parkmöglichkeiten in unmittelbarer Nähe und die Angabe der Parkgebühren für Kurzzeitbesucher und Dauerparker. Spätestens beim Stichwort „Hotline“ erkenne ich, dass es keine Hoffnung mehr auf Verbindung gibt. Wer spätestens jetzt den Verstand nicht verliert, der hat keinen zu verlieren! In den Schlingen der Warteschlange entwickelt selbst der fröhlichste Optimist eine Telefondepression.
Den fünften Akt des Telefondramas zu gestalten, bleibt dem geplagten Telefonkunden selbst überlassen. Die einen stellen leise und resigniert das Telefon zurück ins Ladegerät, weil die Warnleuchte für den Akku zu blinken begonnen hat. Andere raufen sich die Haare, schlagen mit der flachen Hand gegen die Stirn, zerdeppern eine Fensterscheibe oder greifen zur Schnapsflasche. Ich suche meine Jacke, denn ich brauche dringend frische Luft und denke an Schillers Götz von Berlichingen: „Er [ Platzhalter für Kaiser, Firma, Behörde, … ] aber, sag’s ihm, kann mich im Arsche lecken!“
Als ich ein Kind war, ging man zur Poststelle, wenn man telefonieren wollte. Später wurde in der Nähe der Kirche ein Telefonhäuschen aufgebaut, mit Wählscheibentelefon und Geldeinwurf. Anfang der 70er hatte mein Vater sich endlich dazu durchgerungen, ein eigenes, privates Telefon anzuschaffen. Bei der Bundeswehr wurde ich sogar als Telefonist ausgebildet. Vom Kurbeltelefon der Bundeswehr mit der Bezeichnung Feldfernsprecher FF OB/ZB bis hin zur dur modernen Grund Schalt- und Vermittlungsstelle kannte ich mich als Operator mit Englischkenntnissen bestens aus mit Fernkommunikation bis über den großen Teich. Von der Handvermittlung bis zur Wähltastenvermittlung konnte mir kaum jemand bezüglich Telefonverbindung etwas vormachen. Bis zum Handy und zum digitalen Telefon mit Anrufbeantworter, Nummernspeicher oder Wahlwiederholung habe ich alle telefonischen Entwicklungen erlebt.