Kein guter Platz für Helden
Shafiq ist ein Held. Er ist nach Deutschland geflüchtet. Im Iran hat man nach ihm gesucht, weil er seinen Onkel unterstützt hat. Sein Onkel war ein Sanitäter, der verletzten Menschen in Javanud geholfen hat.
Die Menschen waren auf den Straßen zusammengekommen. Eine junge Frau aus ihrer Stadt war im Gefängnis getötet worden. Die Sittenpolizei wollte ihr eine „Erziehungs- und Orientierungs-Lektion“ erteilen. Sie hatten entdeckt, dass ihr Schleier eine Haarsträhne nicht bedeckt hielt.
Die Menschen in Javanud sind auf die Straße gegangen und haben für Menschenrechte, für Gleichberechtigung und gegen das autoritäre Regime des Landes protestiert. Es waren Frauen, Kinder, Männer, alle waren ohne Waffen. Sie sind in einem Marsch schweigend durch die Stadt gegangen. Viele haben die Hände über ihren Köpfen gehalten und geklatscht. Sie wollten zeigen, dass sie nicht bewaffnet sind. Dann haben die Revolutionsgarden mit Maschinengewehren in die Menge geschossen. Über 400 Demonstranten sind gestorben, hunderte sind verletzt worden.
Die Regierung hat gesagt, man hat keine Medikamente, um den verletzten und verblutenden Menschen zu helfen. Die Regierung hat gelogen. Shahiqs Onkel ist ein Arzt. Um ihm zu helfen hat Shahiq selbst Medikamente aus der Nachbarstadt organisiert. Er konnte seinen Onkel unterstützen, Blutungen zu stillen, die nicht gestillt werden sollten und Wunden zu versorgen, die nicht versorgt werden durften.
Den Onkel hat man deshalb eingesperrt. Shafiq wurde gewarnt und konnte fliehen, mit seinen beiden kleinen Mädchen und mit seiner Frau.
Jetzt ist Shafiq in Deutschland, seit über 4 Monaten. Man hat ihm und seiner Frau mit den Kindern ein ehemaliges Krankenzimmer gegeben in einer alten, bereits geschlossenen Klinik. Shafiq sagt, dass er sich in unserem Land sicher und ruhig fühlt. Er ist jedem einzelnen Menschen in diesem Dorf dankbar. Er sagt, dass er hier ehrenhafte Menschen gefunden hat. Aber leider gibt es auch Probleme. Seine Kinder sind krank, aber man will ihnen nicht helfen. Die Kinder brauchen eine andere Kost, aber es gibt hier keinen Laden, in dem er Lebensmittel kaufen kann. Wenn er Gemüse, Obst und Fleisch in den Städten in der Nähe kauft, verderben sie, weil die Familie hier keinen Kühlschrank hat. Das Ehepaar will gerne für die Kinder kochen, was sie vertragen. Die kleinen Mädchen haben seit fast fünf Jahren schwere, chronische Verdauungsprobleme und bräuchten eine andere Kost. Das Unterkunftsessen hat die Verstopfungen bei den Kindern noch schlimmer gemacht. Aber seine Bitten und auch das Attest eines Arztes helfen ihm nicht, obwohl er es schon vor einem Monat der Verwaltung vorgelegt hat.
Jetzt wird Shafiq und seine Familie verlegt. Den Ort kennt er erst seit heute; er hat drei Tage Zeit um sich darauf vorzubereiten. Den Brief der Behörde, hat die Verwaltung der Unterkunft schon lange. Shafiq kann den Brief nicht verstehen. Seinen Namen im Adressfeld kann er lesen. Die Sätze, die er und seine Frau sich bereits selbst beigebracht haben, sind “Guten Tag”, ”Ich komme aus Jahmud”, “Mein Heimatland ist der Iran”, “Wie geht es Ihnen?” “ Können Sie mir den Weg zum Bahnhof sagen?” „Wo kann ich Lebensmittel kaufen?”. Seine Frau und er wollen die deutsche Sprache schnell lernen. Aber sie haben keinen Unterricht darin. Das lateinische Alphabet kennen sie gut. Man schreibt von links nach rechts. Im Persischen hat man andere Buchstaben und man schreibt non rechts nach links. Jeden Tag lernt die Familie einfache Sätze und jeden Tag werden es mehr. Die Familie freut sich auf den Tag, an dem sie alle eine Wohnung und eine Arbeit haben. Dann können sie für sich und die Kinder aus eigener Kraft sorgen. Sie freuen sich darauf, wenn Shafig sein Psychologiestudium wieder aufnehmen kann und seine Frau wieder als Bauingenieurin arbeitet. Die Kinder freuen sich auf den Tag, an dem sie mit deutschen Kindern in den Kindergarten und in die Schule gehen dürfen.
Aber Shafiq weiß nicht, was “Zuweisungstag” heißt, auch “Zielkommune” kennt er nicht. Und der Brief steckt voller Wörter, die ihm Angst machen, wenn er “Freiheitsstrafe”, „Geldstrafe“, „Verwaltungsvollstreckungsgesetz“, “unmittelbarer Zwang“, “untunlich”, “unverzüglich”, … in sein Übersetzungsprogramm eingibt. Und wenn er mühsam den Brieftext mit seinen langen Sätzen in seine Sprache übertragen lässt, ergibt das Ergebnis für ihn keinen Sinn.
Deutschland ist kein guter Platz für Helden.
Vor ein paar Tagen habe ich eine iranische Familie auf einem Spaziergang zu meinem Bienenstand kennengelernt. Sie haben mich freundlich angelächelt, die zwei kleinen Mädchen haben mir spontan ein paar reife Brombeeren angeboten, die sie am Wegrand gefunden haben. Inzwischen habe ich einiges über dies Familie in Erfahrung gebracht. Die freundliche Begegnung und das, was die Flüchtlingsfamilie aus der Notunterkunft in meinem Wohnort Marmagen mir erzählt hat, hat mich zu einer kleinen Kurzgeschichte inspiriert.
Den Namen des Mannes habe ich geändert. Shafiq ist ein geläufiger kurdischer Name und bedeutet in seiner Übersetzung „der Mitfühlende, der Barmherzige“. Die Geschichte, die ich erzähle, nimmt Bezug auf die Ermordung einer jungen Frau durch die Sittenpolizei im Iran, die darauf folgenden Proteste in der kurdischen Stadt Javamud und das Massaker der iranischen Revolutionsgarden an den Demonstranten. Über die lange anhaltenden Proteste darüber im ganzen Iran haben die deutschen Medien sehr umfangreich berichtet. Sie wurden mit brutalster Polizeigewalt niedergeschlagen.
Jina Amini, ihr Tod, verursacht durch die iranische Sittenpolizei, löste weltweite Proteste aus. Wer den Opfern brutaler Polizeieinsätze gegen Demonstranten geholfen hatte, musste ins Gefängnis oder fliehen. Mein Held war einer der Menschen, die erste Hilfe leisteten als hunderte Demonstranten einfach verbluteten sollten.
Bildquelle: Wikipedia