Kant in den Zeiten von Social Media

Menschen mit großer Wirkung widmet man ein Gedenkjahr. Mir fällt ein das „Goethejahr“ (2009), das Lutherjahr (2017) und das diesjährige „Kantjahr“ (2024).

Im April 2024 wäre der Königsberger Philosoph 300 Jahre alt geworden. Er war der prominenteste deutsche Vertreter der Epoche Aufklärung. Auch wenn kaum jemand außerhalb des akademischen Umfelds heute noch seine Schriften liest, so sollte zumindest sein Aufsatz „Was ist Aufklärung“ und der darin gemachten Appell „Sapere aude – habe Mut, dich deines eigenen Verstandes zu bedienen“ vor dem Hintergrund von Hass und Häme in sozialen Netzwerken eine Richtschnur für jeden öffentlichen Diskurs bleiben.

Es ist dieser Kant-Satz, der hinter dem Verfassungsgebot der Meinungsfreiheit steht. (Art.5 S1) „Jeder hat das Recht, seine Meinung in Wort, Schrift und Bild frei zu äußern und zu verbreiten und sich aus allgemein zugänglichen Quellen ungehindert zu unterrichten. „Kant fordert vor allem zum Gebrauch der Verstandes in „öffentlichen Angelegenheiten“ auf. Er ermutigt seine Zeitgenossen, sich nicht von Autoritäten oder der Masse leiten zu lassen, sondern eigene, auf Information gegründete Urteile zu fällen.

Für das Funktionieren von Demokratie ist das essentiell. Die Gefahren beschreibt er so: „Faulheit und Feigheit sind die Ursachen, warum ein so großer Teil der Menschen, nachdem sie die Natur längst von fremder Leitung freigesprochen (naturaliter maiorennes), dennoch gerne zeitlebens unmündig bleiben; und warum es anderen so leicht wird, sich zu deren Vormündern aufzuwerfen.“

Für unsere Zeit entdecke ich solche Unmündigkeit der Menschen darin, dass wir zunehmend Opfer von Propaganda und politischer Manipulation im Netz werden, weil wir uns nicht gründlich genug „aus allgemein zugänglichen Quellen ungehindert unterrichten“ und ich setze dazu: Es verlernt haben, unsere Quellen kritisch auf Seriösität zu überprüfen.

Durch den Austausch von Meinungen in der Öffentlichkeit können wir unsere Überzeugungen schärfen und neue Erkenntnisse gewinnen. Meinungen basieren in der Regel auf Überlegungen, Erfahrungen und Informationen. Sie unterscheiden sich von Vorurteilen, die aus Stereotypen, Emotionen und vereinfachten Annahmen bestehen, ohne dass sie durch Fakten oder logische Schlussfolgerungen gestützt werden.
Es ist wichtig, auch unbequeme Wahrheiten auszusprechen und sich nicht der Konformität anzupassen. Denn nur durch den freien Austausch von Ideen kann sich eine Gesellschaft weiterentwickeln und aufklären.
Unter den Bedingungen einer „freiheitlich demokratischen Grundordnung“ klingt ein Satz : „Das wird man doch wohl noch sagen dürfen!“ eigentlich absurd, ist absurd. „Man darf seine Meinung sagen!“ oder besser noch: „Je mehr Menschen ihre Meinung sagen, desto besser funktioniert Demokratie!“

Aber Meinungsfreiheit hat noch nie bedeutet, dass man sagen darf, was man sagen will. Sie findet dort ihre Grenzen, wo andere Grundrechte wie die Würde, die Freiheit oder das Recht auf körperliche Unversehrtheit verletzt werden, oder wo dazu aufgerufen wird. Verunglimpfung, Aufrufe zur Gewalt, Beleidigungen … sind aus gutem Grund „Straftatbestände“, auch wenn sie in den Sozialen Medien geäußert werden.

Das Problem unserer Tage lautet: „Wie kann man an die Urheber heran, sind es doch so genannte Bots, (Computerprogramme, die automatisch Aktivitäten in sozialen Netzwerken ausführen, z.B. Likes, Kommentare, Shares), Trollfabriken ober auch lichtscheues Gesindel, das unter der Anonymität eines Pseudonyms und mit Avataren Hassbotschaften oder Fakenews in Umlauf bringen, die den Zusammenhalt in unserer Gesellschaft zunehmend untergraben.

Es ist traurig, dass zumindest in den demoktatischen Ländern, in denen Menschen wegen ihrer Meinungsäußerung grundsätzlich keinerlei Repressalien zu befürchten haben, die Politik gegenüber Facebook, X, Instagram und Co. nicht durchsetzen will, dass für Veröffentlichungen aller Art grundsätzlich das Klarnamenprinzip gilt. Das würde zumindestens die Demokratie zersetzenden Kräfte massiv treffen, denn ihre Hassbotschaften und alternativen Wahrheiten, nicht selten auch offene oder versteckte Drohungen und Einschüchterung würden justiziabel.

Ich persönlich habe meine Konsequenzen daraus gezogen.Ich habe mir abgewöhnt, auf Kommentare, Emojis oder dubiose Freundschaftsanfragen zu reagieren, wenn ich sie nicht einer realen Person zuordnen kann. Ich habe gelernt, dass schon eine digital messbare Reaktion, solche Aktionen im Sinne der anonymen Urheber aufwertet. Je mehr Empörung wir in Summe auf die Provokationen durch die oben genannte dubiosen Urheber äußern, umso wichtiger bewertet in aller Regel der Computeralgorithmus den Ausgangspost.
Ich bin sicher, Kant hätte mir in den Zeiten des Internets Recht gegeben.

Zum Bild: Das Gemälde „Freedom of Speech“ (1943) von Norman Rockwell symbolisiert die anhaltende Bedeutung der freien Rede und demokratischer Werte.